Der naturalistische Stil - Bäume mit Individualität

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Der naturalistische Stil - Bäume mit Individualität

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von Gunter Lind

Zu dem in diesem Artikel verwendeten Stilbegriff siehe Stile und Formen.

Ein Bonsai im naturalistischen Stil soll so gestaltet sein, dass er wie ein Baum in der Natur erscheint. Er soll also kein stilisiertes oder idealisiertes Baumbild vermitteln, sondern ein realistisches. Damit ist zugleich das zentrale Charakteristikum des naturalistischen Stils angesprochen: die Individualität der Bäume. Jeder naturalistische Bonsai ist anders.

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Zwei Bäume von Wandschirmen in Batik-Technik, 8. Jh.

Eher naturalistische und eher stilisierte Baumdarstellungen kommen in der fernöstlichen Kunst von Anfang an nebeneinander vor. Hier sind zwei Bäume von Wandschirmen aus dem 8.Jh. abgebildet. Der eine zeigt einen naturalistisch aufgefaßten, jungen Baum, der andere ein Baumsymbol. An den auf beiden Schirmen dargestellten Fasanen kann man den gleichen Unterschied beobachten. Auch bei Bonsai sind beide Tendenzen anscheinend von Anfang an vorhanden gewesen. Die klassische Kiefer auf dem Bild von Zhang Zeduan erinnert bereits an die Kiefern auf den Wandschirmen der Tosa-Schule, der Bonsai auf dem Blatt der 18 Gelehrten ist hingegen naturalistisch getaltet. Die beiden Gestaltungstendenzen sind in Japan bis in die Gegenwart erhalten geblieben, wobei es eine gewisse Tendenz gibt, bei Nadelbäumen stärker zu stilisieren, und naturalistische Gestaltungen eher Laubbäumen vorzubehalten.

Dass der stilisierte "klassische" Stil sich in japanischen Fachkreisen einer deutlich höheren Wertschätzung erfreute als der naturalistische, wird wohl nicht nur ästhetische Gründe gehabt haben. Der klassische Stil war traditionell mit einem kraftvoll-männlichen Ausdrucksideal verbunden, der naturalistische also eher mit einem feingliedrig-weiblichen. Und die japanische Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jhs. war wohl noch stärker männlich geprägt als die europäische. Dass trotzdem naturalistisch gestaltete Bäume beliebt waren, zeugt von der großen Naturliebe, ja Naturverehrung der Japaner. Bambuswäldchen, Chrysanthemenkaskaden oder Glyzinenbonsai sind nie stilisiert worden. Aber auch sie gehören zu Bonsai, auch wenn sie auf den großen Ausstellungen nicht gezeigt werden. In China ist die Situation ohnehin eine andere. Penjing waren nie so auf einen einheitlichen Stil festgelegt wie Bonsai. Es gab immer eine größere stilistische Vielfalt und der naturalistische Stil war stets beliebt.

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Penjing aus der Nördlichen Schule. Das Beispiel zeigt sehr schön die natürliche Wuchsform von Kiefern in den ostasiatischen Wäldern. Man vergleiche mit dem Idealbild der klassischen japanischen Bonsaikiefer.

Dass ein Bonsai erscheinen soll wie ein Baum in der Natur, diese Forderung kann vom Gestalter in zwei unterschiedlichen, einander ergänzenden Arten ausgelegt werden:
1. auf der visuellen Ebene; der Bonsai soll einem großen Baum optisch ähnlich sein, und
2. auf der Ausdrucksebene; der Bonsai soll dasselbe Gefühl, dieselbe Stimmung beim Betrachter hervorrufen wie der Baum in der Natur. In der fernöstlichen Kunst sagt man: der Bonsai soll das Wesen des Baumes erfassen.

Zu 1.: Wenn der kleine Baum in der Schale aussehen soll wie der große Baum in der Natur ist es nicht damit getan, diesen im Verhältnis 1:40 zu verkleinern. Ganz abgesehen davon, dass das unmöglich ist, denn der kleine Baum wächst nun einmal nach denselben Gesetzen wie ein großer. Vielmehr müssen, um einen ähnlichen Eindruck zu erzeugen, beim Bonsai gewisse Formen vereinfacht und gewisse Proportionen verändert werden. Eine 29m hohe Eiche mit einem Stammdurchmesser von 1m wirkt mächtig, ein 50cm hoher Bonsai mit einem Stammdurchmesser von 2,5cm nicht. Das heißt, dass auch ein naturalistischer Bonsai nicht ohne Abstraktion auskommt. Jeder Bonsai ist bis zu einem gewissen Grad abstrakt. Nur ist bei einem naturalistischen Bonsai die Abstraktion nicht Gestaltungszweck, sondern Mittel zur Erreichung eines natürlichen Aussehens. Was das im Einzelnen bedeutet, kann man seht gut bei John Naka (Bonsai Techniques II) studieren. Er zeigt eine ganze Anzahl von Fotos von Bäumen in der Natur und Zeichnungen danach gestalteter Bonsai. Dabei wird z.B. die Silhouette des Baumes vereinfacht und in eine definierte Form gebracht, oder die Hauptäste werden einander in der Wuchsrichtung angenähert. Der Transformationsprozeß kann recht beachtliche Änderungen beinhalten. Trotzdem erkennt man den Baum im Bonsai sofort wieder. Naka meint, die Natur sei nicht immer perfekt und diese Imperfektionen gelte es auszugleichen.

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Penjing von Wong Kee-Mein. Trotz klarer Gestaltung der Baumsilhouette und der Astetagen wirkt der Baum naturalistisch.

Zu 2.: Damit sind wir bei der zweiten Ebene der Gestaltung, der Ausdrucksebene. Naka betrachtet nicht nur den optischen Eindruck des Baumes in der Natur, er sieht ihn vielmehr als Träger eines bestimmten Ausdrucks. Der Baum in der Natur hat einen bestimmten Charakter, er erzeugt im Betrachter eine bestimmte Stimmung. Diese Stimmung, diesen Charakter versucht Naka herauszuarbeiten und dazu sind gewisse Veränderungen der optischen Erscheinung nicht nur erlaubt, sondern notwendig. Selbstverständlich ist dieser Ausdruck nicht bei jedem Baum der gleiche und verschiedene Personen mögen beim Anblick des gleichen Baumes in unterschiedliche Stimmungen versetzt werden. Ihre "Sehformen" sind eben verschieden. Das unterscheidet den naturalistischen Stil vom klassischen oder vom Literatenstil. Bei diesen Stilen ist der Ausdruck, den der Baum vermitteln soll ein Stilmerkmal. Sie sind darauf aus, Bäume mit einem bestimmten Ausdrucksgehalt zu schaffen. Beim naturalistischen Stil wird der Ausdrucksgehalt nicht vom Stil, sondern von der Intention des Gestalters bestimmt.

Das gilt übrigens nicht nur für Bonsai. In der Kunstgeschichte wird zwar eine bestimmte Richtung der Kunst des 19. Jhs. speziell als Naturalismus bezeichnet, aber es herrscht Einigkeit darüber, dass Naturalismus eigentlich kein Zeitstil ist, sondern ein durchgängiges Phänomen der Kunstgeschichte. Es hat in der Spätgotik genauso naturalistische Tendenzen gegeben, wie im Klassizismus. Entsprechend heterogen ist die Kategorie Naturalismus was die Ausdrucksintentionen angeht und man hat sich gefragt, ob Naturalismus überhaupt ein Stilmerkmal sei, wo doch offensichtlich sehr unterschiedliche Sehformen darunter gefaßt sein können. Auf diese Diskussion möchte ich hier nicht eingehen, da Zeitstile für Bonsai ohnehin irrelevant sind. Und dass ein naturalistischer Individualstil möglich ist, dürfte unbestritten sein. Man schaue sich etwa die naturalistisch gestalteten Laubbäume von Walter Pall an. Die meisten dieser Bäume ähneln einander im Ausdruckscharakter. Sie sind männlich, majestätisch, manchmal wuchtig. Das ist vom Ausdruckscharakter der klassischen japanischen Bäume gar nicht so weit entfernt, wird aber mit anderen künstlerischen Mitteln erreicht.

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Fichte von Walter Pall, ein von widrigen Lebensbedingungen gezeichneter alter Baum, ein Symbol für den Willen, in Würde duchzuhalten.

Ihre Baumformen entnimmt die naturalistische Gestaltung aus der Natur. Und insofern auch die klassischen japanischen Formen in der Natur vorkommen, sind auch sie für die naturalistische Gestaltung geeignet. Allerdings erschöpfen die klassischen Formen keineswegs das in der Natur gegebene Formenrepertoire, auch nicht das in der Natur Japans gegebene. Erst recht erweitert ein Blick auf Bäume aus andern Erdgegenden das Formenrepertoire beträchtlich. Auch darauf hat John Naka schon hingewiesen. Er hatte dabei allerdings in erster Linie charaktervoll gewachsene Einzelbäume im Auge, etwa Zirben aus dem Hochgebirge oder alte, schon halb verfallene Eichen, und weniger arttypische Wuchsformen, obwohl er auch solche erwähnt.

Mir scheint jedoch das Anstreben einer arttypischen Wuchsform ein Charakteristikum des naturalistischen Stils zu sein. Das gibt es auch schon in der japanischen Tradition. Die Zelkove wird normalerweise in der Besenform gestaltet, die ihre natürliche Wuchsform darstellt. Die meisten der in den letzten Jahrzehnten vorgeschlagenen arttypischen Formen beziehen sich jedoch auf Arten, die eine sehr charakteristische, einzigartige Wuchsform besitzen. So hat etwa Charles S. Ceronio auf einige afrikanische Arten mit sehr spezifischen Formen aufmerksam gemacht ( Bonsai Styles of the World, Pretoria (Eigenverlag) 1999). Die Baobabform mit ihrem unförmig dicken, zylindrischen Stamm und den dicken Ästen gleicht einer uneleganten Besenform mit zu klein geratener Krone. Die Pierneefform sieht aus wie ein offener Regenschirm und die Flachkronenform ähnelt einer oben waagerecht abgeschnittenen Besenform. Diese beiden Formen zeigen den natürlichen Wuchs zweier Akazienarten. Walter Pall hat die Kandelaberform vorgeschlagen, eine nicht arttypische, sondern standorttypische Wuchsform. Im Hochgebirge gibt es oft Koniferen mit abgestorbenem Hauptstamm, bei denen untere Äste sich zu neuen Stämmen entwickelt haben, die dann kandelaberartig nach oben gebogen sind. Dem an das klassische japanische Formenrepertoire gewohnten Beobachter mögen solche Formen zunächst bizarr, ja sogar hässlich erscheinen. Wer sie aus der Natur kennt, wird das vermutlich anders sehen, weil sie für ihn zu Sehformen geworden sind.

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Hainbuche von Walter Pall. Der Baum zeigt sehr schön die für viele heimische Arten typische "freie Besenform". Attraktiv ist er gerade dadurch, daß der Astaufbau nicht den klassischen Regeln folgt, sondern ein ästhetisch befriedigendes individuelles Muster hat.

Die Wuchsformen unserer heimischen Bäume sind allerdings meist viel weniger spektakulär. Bei den meisten Laubbäumen dominiert eine Art freier Besenform, bei der der Stamm sich in mehrere Hauptäste aufteilt. Jedoch gibt es auch hier charakteristische artspezifische Unterschiede. Die Besenform einer Stieleiche und eines Feldahorn lassen sich kaum miteinander verwechseln.

Man kann noch einen Schritt weiter gehen, und sagen, dass eine naturalistische Gestaltung nicht nur artspezifisch sein sollte, sondern sogar baumspezifisch. Beim klassischen Stil sind die überzeugendsten, stilreinsten Exemplare oft Baumschulpflanzen, die von vornherein auf die gewünschte Form hin verschult wurden und nach jahrzehntelanger Arbeit das Ideal nicht nur fehlerfrei, sondern auch mit jener Selbstverständlichkeit zeigen, die den Weg dorthin vergessen läßt. Beim naturalistischen Stil hingegen sind die überzeugendsten Bäume eher Yamadori, die die Zeichen ihres individuellen Lebensweges unauslöschlich an sich tragen und gerade dadurch Unverwechselbarkeit und Charakter erhalten. Der Gestalter versucht, die von dem Baum nahegelegten Möglichkeiten herauszuarbeiten und ihm so einen individuellen Charakter zu geben. Mir scheint, dass Individualität ein zentrales Charakteristikum eines naturalistisch gestalteten Baumes ist. Ausdrucksvielfalt und artspezifische Form hängen damit zusammen. (Das heißt selbstverständlich nicht, daß Individualität nicht auch in andern Stilen erreichbar wäre.)

Selbstverständlich kann man für einen solchen Stil keine spezifischen Gestaltungsregeln formulieren. Oder besser: die Gestaltungsregeln sind wohl die gleichen wie beim klassischen Stil, nur wird man ihnen häufiger nicht folgen, weil die Individualität des Baumes es nahelegt.

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Bildquellen

1. Otto Fischer: Chinesische Landschaftsmalerei, Berlin (Paul Neff) 3. Aufl. 1943
2. und 3.www.manlungpenjing.com
4. und 5.www.Walter-Pall.de
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