Der klassische Stil - Der Baum des Samurai

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Der klassische Stil - Der Baum des Samurai

Beitrag von gunter »

von Gunter Lind

Zu dem in diesem Artikel verwendeten Stilbegriff siehe Stile und Formen.

Unter dem klassischen Stil verstehe ich jenes Gestaltungsideal des männlich-kraftvollen, relativ stark stilisierten Baumes, das seit Beginn des 20. Jhs. für die japanische Bonsaikunst typisch ist. Die kunstgeschichtliche Entwicklung dieses Stils ist in einem andern Artikel behandelt worden (Die klassische Kiefer). Hier soll versucht werden, seine Kennzeichen, so wie er sich heute darstellt, aufzuzeigen.

Der klassische Stil ist besonders für die Gestaltung von Nadelbäumen charakteristisch und seine Wertschätzung ist wohl der Grund dafür, dass Nadelbäume in der japanischen Bonsaikunst des 20. Jhs. dominieren. An der Gestaltung des Kiefernbonsai läßt sich der klassische Stil bis in die Anfänge der Bonsaikunst zurückverfolgen. Er hatte jedoch bis zum Beginn des 20. Jhs. nie eine dominierende Stellung. Erst seit dieser Zeit wurde er zunehmend auch auf die Gestaltung von Laubbäumen übertragen, wo er allerdings nie durchgängig verwendet wurde. Viele Laubbäume wurden weiterhin in einer eher naturalistischen Weise gestaltet. Die Übergänge zwischen beiden Stilen sind je nach dem Ausmaß der Stilisierung fließend.

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"Heiliger Berg", eine berühmte japanische Schwarzkiefer, etwa 110 Jahre alt; ein Baum, der den klassischen Stil in vollendeter Schönheit zeigt.

Mein Großer Brockhaus (von 1955) definiert Klassik folgendermaßen: Schönheit, Ausgewogenheit, Aufhebung des Besonderen im Typischen und Normativen,... Die Renaissance erklärte diese Gestaltwerte für so verbindlich, dass ihr ohne sie künstlerische "Vollkommenheit" unerreichbar, jede Abweichung als Abfall von der "Wahrheit" erschien. Dieser Dogmatismus hat das europäische Kunstleben seither immer wieder bestimmt; er wirkte steigernd, indem er feste gestalterische Maßstäbe gab und Stetigkeit des ästhetischen Urteils ermöglichte, hemmend, indem er die schöpferische Freiheit einengte und Ursache vieler Verkennungen wurde. Der folgende Versuch einer Kennzeichnung des klassischen Bonsaistils wird einige Parallelen zu diesem Zitat aufzeigen und so die Wahl des Begriffs "klassischer Stil" legitimieren.

1. Der klassische Bonsai ist schön, ausgewogen, harmonisch, ruhig, statisch, eben klassisch. Er zeigt ein vollkommenes optisches Gleichgewicht. Er ist nicht bewegt, nicht expressiv, auch nicht romantisch und schon gar nicht zerrissen. Er hat die zeremonielle Würde der Noh-Schauspieler, nicht die oft allzu menschliche Dynamik der Kabuki-Akteure.

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Kerbbuche von Kazumi Ochida. Der Baum ähnelt im Aufbau der Kiefer von der vorigen Abbildung. Der hohe Verfeinerungsgrad kommt natürlich nur im Winter zur Geltung.

2. Der klassische Bonsai ist kraftvoll-männlich. Das zeigt sich an einem kräftigen Stamm, einem breiten Nebari, das ihm den Eindruck unverrückbarer Standfestigkeit gibt, und an einer eher üppigen, aber wohl geordneten Belaubung. Zeichen von Alter sind durchaus erwünscht: herabgeneigte Zweige, breites Nebari, borkige Rinde. Aber sie sollten nicht so weit gehen, dass der Eindruck von Verfall und nahem Tod entsteht. Der klassische Bonsai entspricht einem Mann in fortgeschrittenem Alter, aber noch auf der Höhe seiner Kraft, nicht einem Greis. Zusammen mit dem ersten Punkt kann man wohl sagen: Der Baum ähnelt dem Idealbild des Samurai, der zu der Zeit als dieses Baumideal bestimmend wurde, gerade endgültig von der militärischen und politischen Bühne abgetreten und zu einer Projektion nationaler Tugenden und einem Symbol für die gute alte Zeit geworden war.

3. Der klassische Bonsai stellt nicht einen ganz bestimmten, individuellen Baum dar, sondern einen idealen Baum, einen Prototyp. Der Lexikontext spricht von der Aufhebung des Besonderen im Typischen und Normativen. Auch dies erinnert wieder an das Noh-Spiel, wo die Charaktere nicht eigentlich Individuen darstellen, sondern menschliche Typen. Dies impliziert ein gewisses Maß an Abstraktion, die in einer durchaus dekorativen Art und Weise durchgeführt wird. Der Baum zeigt tendentiell den abstrakten Charakter eines formalen Musters, eine dekorative Strenge. In Europa hat seit dem 19. Jh. die dekorative Kunst nicht den besten Ruf. Sie gilt als "bloß" dekorativ. Für Japan wäre eine solche Bewertung ganz falsch. Gerade in der dekorativen Kunst hat Japan am deutlichsten zu eigenständigen Ausdrucksformen gefunden.

4. Der klassische Stil strebt nach künstlerischer Strenge und formaler Disziplin. Dies äußert sich in einer Vielzahl von Regeln für die Gestaltung unterschiedlicher Formen. Auch dies ist ein in der japanischen Kunst häufig anzutreffendes Merkmal. Besonders hervorzuheben ist hier die Gartenkunst. Diese Regelfixiertheit sorgt einerseits für ein durchgängig hohes Niveau der handwerklichen Arbeit, engt andererseits aber auch die schöpferische Freiheit ein. Vielleicht ist dies ein Grund für das Fehlen radikaler Traditionsbrüche in der fernöstlichen Kunst. Dies verlangt ein hohes Maß an Selbstdisziplin vom Künstler. Individualität zu erreichen bedeutet zunächst einmal eine intensive Auseinandersetzung mit der Tradition. Erst wer die Traditionen vollkommen beherrscht, kann über sie hinausgehen.

5. Der klassische Stil strebt nach Homogenität von Form und Inhalt. Alle Teile des Bonsai sollen die gleiche Aussage beinhalten. Andy Rutledge (Artistic Foundations of Bonsai Design, Internetbuch 2003) hat hierfür den Begriff design integrity geprägt und er führt aus, dass dies die Vermeidung aller Inkongruenzen und kognitiven Dissonanzen beinhalte. Dies sind Begriffe der Wahrnehmungspsychologie und deren empirische Ergebnisse zeigen, dass solche Bilder oder Muster zwar als schön und harmonisch empfunden werden, aber auch als etwas langweilig. Der Mensch schaut ein Bild dann am längsten an und empfindet es als interessant und anregend, wenn ein gewisses, jedoch nicht zu großes Maß an Inkongruenzen vorhanden ist. Man muß sich also entscheiden, ob man die vollendete Harmonie oder eine anregende Interessantheit präferiert und der klassische Stil entscheidet sich eindeutig für ersteres.

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Picea abies von Renato Dal Toso. Der Baum zeigt, dass auch Bonsai im klassischen Stil "natürlich" aussehen können.

6. Im klassischen Stil werden handwerkliches Können und technische Virtuosität sehr hoch geschätzt. Angestrebt wird ein hoher Grad der Verfeinerung. Vielleicht hat dies etwas mit dem hohen Maß an formaler Disziplin bei der Gestaltung zu tun. Wo Originalität als Unterscheidungsmerkmal weitgehend wegfällt, wird Virtuosität umso wichtiger. Der Fachbegriff für dieses Kennzeichen des klassischen Stils ist Mochi-komi. Gemeint ist eine Verfeinerung, die nicht den Eindruck des Artifiziellen hervorruft. Der Baum soll bis ins Detail durchgestaltet sein, jedoch in seinem Ausdruck so selbstverständlich erscheinen, dass man die Hand des Gestalters vergißt. Eine solche Reife kann nur durch langjährige Kultivierung erreicht werden.

Eine derartige Kennzeichnung eines Stils ist immer plakativ. Sie berücksichtigt nicht die Bandbreite der Möglichkeiten innerhalb des Stils und auch nicht Entwicklungen, die innerhalb des Stils stattgefunden haben. Wenn man Photos klassisch gestalteter Bäume vom Anfang und vom Ende des 20. Jhs. miteinander vergleicht, so wird die qualitative Entwicklung während dieser Zeit unmittelbar deutlich. Es gibt jedoch auch Unterschiede in den präferierten Formen. Anfangs war die streng aufrechte Form beliebter, inzwischen ist es die frei aufrechte Form. Auch gibt es eine Entwicklung von schlankeren zu kompakteren Bäumen. All diese Veränderungen scheinen mir jedoch keine stilistischen Wandlungen zu sein. Im Gegenteil: die Kennzeichen des klassischen Stils sind dadurch eher klarer und schärfer herausgearbeitet worden.

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Bildquellen

1. BONSAI art 1/1993, S.5: Die streng aufrechte Form und die Besenform.
2. BONSAI art 69/2005, S.24: Galerie mit "Neujahrs-Highlights" des Bonsaimuseum Shunka-en.
3. Aus einer Galerie mit Bäumen vom 4th National Congress of the Italian Bonsai Union and European Bonsai Association 2000 ,veröffentlicht in der inzwischen eingestellten Internetzeitschrift "The Bonsaienthusiast".
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