Über das Sehen - Schulung des Auges

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Holger
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Über das Sehen - Schulung des Auges

Beitrag von Holger »

Verfasser: Zopf (Dieter)

Das Sehen

Es hört sich wohl lustig an, wenn ich über eine, täglich zigtausendfache gemachte, elementare Fähigkeit wie das Sehen schreibe.

Nehmen wir nur einen kleinen Ausschnitt des Sehens, die Farbe. Ein normaler Mensch kann rund 1000 Farben unterscheiden, Menschen die beruflich mit Farben zu tun haben und des öfteren Farben mischen, können um die 10000 Farben unterscheiden. Ein guter Künstler kann um die 100000 Farben unterscheiden.

Zum leichteren Nachvollziehen habe ich ein kleines Beispiel aus der Praxis, die Abstände zwischen Buchstaben in einem Wort.
Ein Wort wirkt harmonisch, ausgeglichen, wenn der Freiraum zwischen den Buchstaben gleich groß ist. (Bei Buchstaben wie dem T gilt eine Kurve zwischen den
Spitzen als Bezug)

1. ist der normale Abstand wie er sich bei der Eingabe im Computer ergibt.
2. ist eine Korrektur der Abstände, ohne die Buchstaben zu verändern.
3. hierbei sind die oberen Balken der T´s gekürzt.

Der Freiraum ist rot schraffiert um es etwas zu verdeutlichen. Das Beispiel beschreibt reines Handwerk, in meinen Augen ist so etwas die Vorraussetzung und Grundlage weiterführender
Kreativität.

Nix sehen, nix biegen.

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Frage:
Ich sehe natürlich einen Unterschied, weiß aber noch nicht recht, auf was du hinaus willst.

Ich finde es übrigens sehr gut, so an die Sache heranzugehen, im Rahmen einer Ausbildung, die ich mal gemacht habe, haben wir Hören trainiert - man steht am Anfang total auf dem Schlauch, hat keine Ahnung, auf was das hinaus soll, was man da überhaupt hören soll - und plötzlich ist es da... und dann kann man richtig damit arbeiten. (allerdings auch nicht mehr unbedarft Musik hören wie zuvor ; ))

Antwort:
Das Beispiel soll dabei helfen, das "Sehen" bewusst zu erleben und sich im Alltag darin zu üben.
Ein anderes Beispiel wäre, nimm ein Quadrat und versuche, optisch gleichgewichtig dazu einen Kreis und ein gleichwinkliges Dreick zu malen.

Ein Punkt bei einer Gestaltung sind die Negativräume. Diese zu beurteilen fällt meist schwer, da die Aststruktur unregelmäßig ist und die Blätter/Nadeln sich leider nicht genau waagerecht stellen (was die Beurteilung erleichtern würde).

Die Negativräume sollten nicht gleichmäßig/regelmäßig sein, sondern harmonisch/unregelmäßig.

Um letzteres zu erreichen sollte man zuerst versuchen das Regelmäßige (Leichtere) zu erkennen um sich dann dem ungleich Schwierigeren des unregelmäßig/harmonischen zuzuwenden.

Nachfolgend ein Beispiel: das vorhergehende Einzeichnen eines regelmäßigen, dann unregelmäßigen Dreieck bleibt euch erspart. So ungefähr stelle ich mir Arbeitsskizzen vor, die das Grobziel der Grün und Negativräume beinhalten.

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Eine der vielen Entscheidungen die Ihr treffen müsst, ist der Stammverlauf. Als Beispiel habe ich die Lärche von Max genommen.
Die erste Biegung im Stamm ist vorgegeben. Aus der Höhe des ersten Knicks ergibt sich nach dem goldenen Schnitt der nächste Knick. Da fangen dann Eure Entscheidungen an.
Die Kästchen zeigen ungefähr die einzelnen Knicke an. Aber welche Richtung soll der Stamm nehmen ?

P.S. Durch die Vielzahl der Äste sind wir bei dieser Lärche in der Lage, fast jeden Stammverlauf zu erzeugen.

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Auswahl:
Also, mir gefällt eigentlich nur Stammverlauf Nr. 3 richtig (ie. 3. von links) alle anderen finde ich haben zu lange gerade Strecken im Verlauf.

Erläuterung:
Das wäre dann in der Fortsetzung der "Zick-Zack" Stamm. Würdest Du denn bei allen 3 Bäumen den Zick-Zack-Stamm bevorzugen?

Auswahl:
Stamm 3 ist der einzige der nicht zweimal den Knick in die gleiche Richtung macht (Versteht jeder, was ich meine?). Er schlängelt sich im Zickzack nach oben.
Ich denke, je nach Baum macht sich auch mal eine andere Variante ganz gut.

Also ich würde (nur bei der Lärche) Stamm 2 ganz klar bevorzugen… Ich finde, bei Stamm 3 ist der oberste Knick ganz klar zu viel.
Bei dem Ahorn (zumindest bei meinem)würde sich ganz klar eine leicht gebogene, frei aufrechte Form anbieten - ohne irgendwelche Knicke.
Bei der Ulme hatten wir uns ja eigentlich eine Besenform vorgenommen, aber meiner Meinung nach ist dafür der Stamm schon zu krumm

Erläuterung:
Stellt Euch den Zick-Zack-Stamm mit stärkeren und runderen Biegungen vor und Voila, ein Baumarkt-Baum ist entstanden.

Seid bitte nicht verärgert, aber der erste Schnitt des Stammes und die darauf folgende Bewegung wird den Baum sein hoffentlich langes Leben, prägen.
Und es warten noch viele solcher Entscheidungen auf Euch.


Die Besenform:

Als vorerst letzte Qual, steht bei der freien Besenform die Art der Besenform an.
Ohne Bilder vielleicht etwas schwerer zu verstehen, aber sei´s drum. (Ich werde aber noch versuchen Bilder zu machen).

Die klassische Besenform hat meist einen kurzen Stamm, von dem aus, meist von 2 Ästen ausgehend, sich die Krone entwickelt.

In der Natur kann man aber andere Formen der Besenform sehen. Die Variante mit durchgehendem Stamm und die Variante mit einem sich auflösendem Stamm ungefähr
nach 2/3 der Baumhöhe (die meisten Birken).

Die verschiedenen Möglichkeiten sind bei Straßenbäumen, Alleebäumen und freistehenden Bäumen sehr gut zu beobachten. In welcher Form ihr Euer Bäumchen am liebsten gestaltet
kann ich nicht wissen. Ihr solltet Euch aber bis zum März darüber Gedanken gemacht haben.

Die klassische Besenform ist schwer, erfordert viel Disziplin und ist leider nicht mit vielen Bäumchen möglich. Die Besenform mit durchgehendem Stamm ist recht einfach
zu realisieren und beinhaltet als einzige, größere Schwierigkeit die Glaubwürdigkeit des Stammverlaufes. Der Astaufbau hingegen ist recht einfach und wird hauptsächlich durch Schnitt vollzogen.
Ja und dann diese recht naturnahe Besenform mit sich auflösendem Stamm. Vorbilder findet Ihr fast nur in der Natur. Bei dieser Form solltet ihr (Feldahorn) von einem etwas größeren Baum ausgehen, da das "Auflösen" erst bei etwas mehr Verzweigung glaubhaft wird.

Also noch zusammengefasst:
Ihr solltet Euch Gedanken machen über den Stammverlauf und über die Art der Besenform.
Aber bitte keine Panik, wem das jetzt nicht ganz klar ist. Wir machen keinen fertigen Baum in einem Arbeitsschritt. Wir entwickeln das Material nur Stück für Stück weiter. Wenn wir dabei gewisse Regeln einhalten, wird so oder so ein schönes Bäumchen das Resultat sein. Die Bäume werden uns den Weg zeigen und mit kleinen Eingriffen steuern wir nur etwas die Entwicklung. Es gibt auch einen rein gärtnerischen Weg zum Bonsai und viele schöne Bäume sind so entstanden.


Beispiele:
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(Bild: Erich Plattner, Sissach (CH))


Unten 2 Beispiele der Besenform. Wichtig dabei ist der Astansatz. Ein schlanker Baum, der sich in mehrere stärkere Äste aufteilt, die fast senkrecht nach oben wachsen
und sich nach oben hin auflösen.
Ein kurzer Knubbel, wo aus wulstigen Knoten die Äste erst nach einer Biegung nach oben streben, wobei hier erst die starke Verankerung im Boden, ein breiter Wurzelansatz, dieses Bild ermöglichen.

Auf dem Bild von Andreas oben ist eine sehr "klassische" Besenform zu sehen, die in ihrer Ausstrahlung wunderbar ist. Wer so einen Baum realisieren möchte, sollte allerdings zur "Hardcore-Fraktion" der Bonsai-Freunde gehören, da eine solche Gestaltung nicht in Jahren, sondern nur in Jahrzehnten zu erreichen ist.
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Zwei Dinge sind unendlich: das Universum und die menschliche Dummheit.
Beim Universum bin ich mir aber noch nicht ganz sicher
(Albert Einstein)
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