1. Vorwort: Geschichte und Mythologie - Vorwort

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gunter

1. Vorwort: Geschichte und Mythologie - Vorwort

Beitrag von gunter »

von Gunter Lind

In vielen Bonsaibüchern steht am Anfang eine kurzgefasste Geschichte von Bonsai und wenn man sie gelesen hat, hat man das beruhigende Gefühl, dass Bonsai eine alte, ehrwürdige Sache und die heutige Bonsaikunst das Ergebnis einer langen, kontinuierlichen Entwicklung sei. Friedrich Nietzsche mochte wohl die beruhigenden Gefühle nicht so sehr und er unterscheidet deshalb zwei Arten der Geschichtsschreibung. Die eine versucht, die Vergangenheit im Lichte der Gegenwart zu verstehen. Man konzentriert sich darauf, das wiederzufinden, was man an der Gegenwart schätzt und macht die Vergangenheit so zu einer Vorstufe der Gegenwart. Nietzsche meint, aus einer solchen Geschichte könne man nichts lernen, man solle vielmehr umgekehrt vorgehen und die Gegenwart im Lichte der Vergangenheit zu verstehen versuchen. Es komme darauf an, die "Unzeitgemäßheit" vergangener Epochen gegenüber der Moderne klarzumachen. Wenn die Geschichte von Bonsai uns ungewöhnliche, fremde Welten zeigt, die nichtsdestotrotz zu der heutigen Bonsaikunst geführt haben, kann das Erstaunen vielleicht zu Fragen führen, die einige vermeintliche Selbstverständlichkeiten relativieren und zeigen, dass sie eben nicht notwendig so sind, sondern sich einer historisch-zufälligen Entwicklung verdanken.

Dann wird man sich allerdings nicht auf Bonsaigeschichte im engen Sinn beschränken können, sondern diese im Zusammenhang mit der jeweiligen historischen Situation sehen müssen. Ein wenig ideengeschichtlicher, sozialgeschichtlicher und kunstgeschichtlicher Hintergrund gehört also dazu. Dabei war mir das Buch von Rolf A. Stein (The World in Miniature. Container Gardens and Dwellings in Far Eastern Religious Thought. Stanford University Press 1990) eine große Hilfe. Es ist bislang die einzige umfangreiche Publikation dieser Art, die wissenschaftliche Ansprüche stellt. Allerdings ist Stein nur an religions- und volkskundlichen Fragen interessiert und nicht an der Gestaltung von Bonsai. Ich habe deshalb versucht, soweit es mir möglich war, andere Aspekte hinzuzufügen, insbesondere den kunsthistorischen.

Leider konnte ich dazu kein Quellenstudium betreiben, da ich weder japanisch noch chinesisch lesen kann. Für den kunsthistorischen Hintergrund bedeutet dies kaum einen Nachteil, da er in der Sekundärliteratur umfassend aufgearbeitet ist. Aber an bonsaigeschichtlichen Fakten wäre wohl in der fernöstlichen Literatur noch einiges zu holen gewesen. So sind Lücken unvermeidlich und Fehler können angesichts der vermutlich nicht immer verlässlichen Sekundärliteratur nicht ausgeschlossen werden.

Ich habe den Begriff Bonsai hier nicht eng gefasst, sondern verwandte Künste mit hinzugenommen. Das ist schon durch den historischen Ansatz bedingt. Es gab nicht von vornherein eine saubere Trennung zwischen Bonsai, Bonkei und Bonseki, diese ist vielmehr erst das Ergebnis einer historischen Entwicklung.

Die folgenden Artikel sind kurz und jeweils einer eng umgrenzten Frage gewidmet. Sie bilden kein geschlossenes Ganzes, sondern sind auf Ergänzung angelegt. Manches fehlt noch gänzlich, zum Beispiel die gärtnerische Geschichte von Bonsai oder die Geschichte der Institutionalisierung von Bonsai. Ich kann mir auch vorstellen, dass hier Märchen und Sagen oder Gedichte, die mit Bonsai zu tun haben, das kulturelle Bild abrunden.

Manchmal war es willkürlich, ob ein Artikel hier unter "Geschichte und Mythologie" oder unter dem nächsten Gliederungspunkt "Kunstgeschwafel" eingeordnet wurde. Nach meiner Auffassung gehören Kunstgeschichte und Kunsttheorie eng zusammen.

Die folgenden Ausführungen sind natürlich subjektiv gefärbt, aber sie sind deshalb noch lange nicht bloße subjektive Meinungen. Das Verhältnis von Subjektivem und Objektiven in der Geschichtsschreibung ist kompliziert. Geschichte so zu schreiben, "wie es eigentlich gewesen ist", ist unmöglich. Schon durch die Auswahl und Interpretation der Fakten erhält die Darstellung ein subjektives Moment. Aber wenn Geschichtsschreibung auch nicht aus den historischen Fakten ableitbar ist, so ist sie doch durch die historischen Fakten kritisierbar. Und solche Kritik sollte das Bild immer reicher und zutreffender machen.

Friedrich Schiller hat einmal (in einem Brief an Theodor Körner) gesagt, weil es notwendig sei, aus der Geschichte zu lernen, "so hat derjenige nicht für Undank gearbeitet, der sie aus einer trockenen Wissenschaft in eine reizende verwandelt." Darum habe ich mich bemüht.

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