Fichte - Kandidat für Literat

Allgemeine Philosophie, Stilarten, Techniken, Vorstellung und Besprechung von Rohmaterial sowie lose Sammlung von Entwicklungs-Dokus
Lutz Marx
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Fichte - Kandidat für Literat

Beitrag von Lutz Marx »

Guten Abend,

diese Fichte habe ich kürzlich von einem guten Freund gekauft. Mir fehlt noch ein Literat in meiner Sammlung. Dieser Baum hat viele Attribute, die ihn langfristig dafür prädestinieren. Gute Verjüngung, feine reife Borke, die Äste halbwegs an den richtigen Stellen und als Fichte schöne kurze Nadeln. Obwohl der Baum gesund und fit ist, habe ich erstmal nur die Äste gestellt, alles weitere in den nächsten Jahren. Mittelfristig wird alles noch reduziert, aber ich will dem Baum nicht zuviel auf einmal zumuten. Ich freue mich schon auf die weitere Gestaltung.

LG, Lutz
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Andreas Ludwig
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Re: Fichte - Kandidat für Literat

Beitrag von Andreas Ludwig »

Lutz Marx hat geschrieben: 07.11.2021, 20:34 Mir fehlt noch ein Literat in meiner Sammlung.
Bäume haben ihren eigenen Willen – bloss, weil man noch keinen Literaten hat, muss man nicht unbedingt einem Baum diese Intention aufzwingen – das ganz pauschal vorweg.
Lutz Marx hat geschrieben: 07.11.2021, 20:34 Dieser Baum hat viele Attribute, die ihn langfristig dafür prädestinieren. Gute Verjüngung, feine reife Borke, die Äste halbwegs an den richtigen Stellen und als Fichte schöne kurze Nadeln.
Da stimme ich absolut zu.
Lutz Marx hat geschrieben: 07.11.2021, 20:34 Obwohl der Baum gesund und fit ist, habe ich erstmal nur die Äste gestellt, alles weitere in den nächsten Jahren. Mittelfristig wird alles noch reduziert, aber ich will dem Baum nicht zuviel auf einmal zumuten.
Das begrüsse ich überaus – Fichten sind durchaus etwas heikel. Sie haben so schön gummige Äste und viele Knospen und dann legt man los – und plopp, stirbt ein ganzer Ast, weil am Stammansatz versehentlich und ganz übersehen die Borke geknickt wurde z.B. An jeder Fichte hängt ein imaginäres Schild, auf dem steht: «Handle me with care».

Jetzt aber zum Literaten: Gehen wir zurück zum Vorbild, das aus China und Korea stammt und später von den Japanern in der späten Edo-Zeit aufgenommen wurde, nachdem die Samurai sich ausreichend totgehackt hatten und der Kaiser wieder wichtiger war als der Shogun. Was ist ein Literat? Ein in jeder Hinsicht gebildeter Mensch, der strenge Prüfungen durchlaufen und am Ende eine Verwaltungsaufgabe zugeteilt gekriegt hat. In seiner reichlichen Freizeit widmete er sich so unnötigen Dingen wie Poesie, Malerei oder Musik. Aus der Tatsache, dass er kein Kraftprotz ist, kein «Sumo-Ahorn», sollte man aber keinerlei Schwäche ableiten. Literaten waren starke, aber feine Persönlichkeiten, Verwaltungsadel. Weshalb ich den Eindruck einer «geknickten Person» – so erscheint mir dein letztes Bild – nicht ganz überzeugend finde. Ein Literat ist ein Mensch, der die Füsse am Boden und den Kopf in den Wolken hat. Vielleicht richtest du ihn obenrum doch noch etwas auf?
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Lutz Marx
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Re: Fichte - Kandidat für Literat

Beitrag von Lutz Marx »

Hallo Andreas,

vielen Dank für Deine fundierte Rückmeldung - die weiß ich zu schätzen.

Wie gesagt, ich habe nicht das Gefühl, den Baum in eine Form zu zwängen - er bietet es an.

Finale Entscheidungen treffe ich jetzt sicher noch nicht. Über mehr "aufrechtes Wachstum" obenrum denke ich gern nochmal nach - in den nächsten Jahren. Ich hänge allerdings nicht an japanischen regeln, was meine Bäume angeht.

Man wird sehen...

LG, Lutz
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abardo
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Re: Fichte - Kandidat für Literat

Beitrag von abardo »

... und wenn man diese ganzen historischen und kulturellen Bilder nur einmal verdrängt, kann man frei agieren und eine filigrane Gestaltung vornehmen.
Grüße, Frank
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Arthur Dent
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Re: Fichte - Kandidat für Literat

Beitrag von Arthur Dent »

Das Wissen um die Regeln hilft, wenn man sie hinter sich lassen möchte….
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Andreas Ludwig
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Re: Fichte - Kandidat für Literat

Beitrag von Andreas Ludwig »

abardo – dann sollte man es nicht Literat nennen. Ein Menuett ist ein Menuett, eine Sinfonie eine Sinfonie, ein Aquarell ein Aquarell und ein Literat ein Literat. Etwas anderes ist konsequenterweise dann etwas anders. In diesem Sinne verstehe ich das Aufbegehren gegen Zwänge nicht, denn es sind ja bloss vermeintliche Zwänge: Wer sich einreiht, reiht sich eben ein. Wer seinen eigenen Weg geht, muss nicht gegen das Einreihen anderer protestieren, das ist womöglich zwangshafter als das, wogegen er protestiert... Lassen wir also Lutz seinen Literaten machen und dich deine Urban Design-Sachen.
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zopf
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Re: Fichte - Kandidat für Literat

Beitrag von zopf »

Hallo Lutz
Ein wesentliches Merkmal des gebildeten, feinen Poeten sind die Linien des Baumes.
Eine gewisse Schlüssigkeit der Linienführung
(der Stamm als federführendes Element gibt es vor)
fördert den erwünschten Eindruck.
Damit sollte aber keine Eintönigkeit gemeint sein,
ein Bruch des Rhytmus, der gekonnte Bruch einer Linie...
mfG Dieter
grüsse an die bewohner von melmac
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abardo
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Re: Fichte - Kandidat für Literat

Beitrag von abardo »

Ein Menuett, eine Sinfonie oder ein Aquarell ist kein Baum. Ein Kaiser, ein Shogun, der Verwaltungsadel ist kein Baum. Zwingt man diese Bilder einem Rohling auf, bestimmen sie den Weg. Die Gestaltung wird sich diesen Bilder annähern und entfernt sich vom Ziel. Nämlich einfach nur Baum zu sein, mit einer Form.

Der Weg ist eben nicht das Ziel, weil er gesäumt ist mit Tausenden anderen Bäumen, mit Bildern, Geschichten, Kultur und Meinungen.

Das Ziel ist das Ziel. Die Gestaltung vom Ende her denken und dann während des Gehens immer wieder kontrollieren, ob man dem Ziel treu geblieben ist.
Andreas Ludwig hat geschrieben: 08.11.2021, 23:05 Lassen wir also Lutz seinen Literaten machen ...
Exakt. Eine Bitte um Gestaltungshilfe konnte ich dem ersten Text von Lutz nicht entnehmen.

Ist der Baum dann fertig gestaltet, können andere ja reininterpretieren, was sie mögen. Das ist dann deren Spass beim Betrachten von Kunst.
Grüße, Frank
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abardo
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Re: Fichte - Kandidat für Literat

Beitrag von abardo »

Rein technisch ist es schon falsch, bei der Gestaltung des Baumes keinen Literaten sehen zu wollen, weil er nicht zur Körperhaltung eines Menschen passt.

Bei Bonsai ist "Literat" ein Stil, keine Form. "Literat" steht hier neben Penjing, klassisch japanischem Stil, Naturalismus, Märchenstil oder eben auch Modern Living Style. Du kannst auch eine geneigte Form, eine Vollkaskade, eine Wurzelstammform oder einen Wald im Literatenstil gestalten. Da kommst du dann mit dem Bild des gebeugten Menschen nicht weit. Ansonsten gäbe es nur Literaten in streng aufrechter Form.

Das hier ist ein Baum in frei aufrechter bzw geneigter Form, der im Literatenstil gestaltet werden soll. Passt.
Grüße, Frank
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Lutz Marx
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Re: Fichte - Kandidat für Literat

Beitrag von Lutz Marx »

Vielen Dank für die vielen Zuschriften. Jetzt würd mich aber neben der interessanten Diskussion über Literaten aber auch doch Eure Meinung zu meinem ersten Gestaltungsschritt interessieren...

LG, Lutz
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Andreas Ludwig
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Re: Fichte - Kandidat für Literat

Beitrag von Andreas Ludwig »

Danke, Lutz – ich halte andere, hier geäusserte Meinungen für arg prinzipiell und betrüblich theoretisch. Was uns und deinen Baum keineswges weiterbringt. Also zu deinem Baum:

Ich meine, du darfst den noch massiv weiter drahten und – sagen wir mal im nächsten Frühjahr, wenn man die Knospen sieht – auch deutlich weiter zurückschneiden. Über die Aststellungen können wir gerne nochmals diskuteren, ich habe da Vorbehalte, denke aber insgesamt, das sei eine gar nicht so üble Vorarbeit. Im weiteren kann man Fichten lange drahten. Bloss diesese Sptize – die finde ich arg depressiv. Des weiteren scheint mir, der Stamm ertrüge etwas Schwung. Kriegt man (mit sehr dickem Draht, aneglegt bis ganz unten, verankert im Wurzelfuss) locker hin. Ich empfehle mal aus der Distanz: Etwa in der Hälfte des Stamms (ab Kante Schale) einen «Rückschwung» nach links, wiederum halbwegs oberhalb zurück. Bedarf sehr dicken Drahtes, geht aber schon.
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Re: Fichte - Kandidat für Literat

Beitrag von Hippo »

Lutz Marx hat geschrieben: 09.11.2021, 19:07 .... aber auch doch Eure Meinung zu meinem ersten Gestaltungsschritt interessieren...
Salü Lutz,

Deine aktuelle Grundgestaltung ist nach meinem Gefühl vielmehr ein Shakan (geneigt) als ein Bunjin (Literat).
Irgendwer hat mal für Bunjin den Begriff geprägt von der "Schreibfeder im Tintenfass".
Dieses Bild schwebt mir beim Betrachten deines Baumes nicht vor. Auch wenn ich zehn Jahre dazugebe und alle Aeste mit Rückknospung reduziert wurden.

Dein erstes, noch ungestaltetes Bild hat jedoch (für mich) einen Ansatz zum Bunjin indem man nur die drei untersten Aeste verwendet.
Habe was gekritzelt wo die Grünteile der Krone nicht fertig gedacht sind aber die drei angesprochenen Aeste den Baum ausmachen.
.
20211109_225800.jpg
20211109_225800.jpg (83.86 KiB) 1075 mal betrachtet
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Gruss George
Grumpy old fat Kiboko.
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abardo
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Re: Fichte - Kandidat für Literat

Beitrag von abardo »

Hi Lutz,

bei einer Gestaltung fange ich immer im Topf an. Hier müsste dann ja der Ballen in einigen Jahren viel kleiner werden können. Nicht nur deutlich flacher, sondern auch schmaler. Wie sieht es da aus ?

Dann folgt das, was man nur in vielen Jahren ändern kann, die Verjüngung des Stammes. Da hätte ich gerne eine leichte Bewegung von unten nach oben in kleiner werdenden Schwüngen oder gerne mal eine abrupte Richtungänderung (davon sehe ich momentan zwei, deshalb macht Hippos Ansatz für mich Sinn, dann hätte man nämlich nur noch eine). Aktuell sehe ich mittig ein längeres, kaum verjüngtes und recht steifes Mittelstück. Bei Fichten kann man aber ohne weiteres die Stammbewegung korrigieren. Man könnte z.B. die jetzigen beiden Knicke begradigen und dann das lange Stück einmal brechen und stark knicken.

Ist die Stammlinie gefunden, kann man entscheiden, welche Äste gebraucht werden. Die Auswahl ist hier ja angenehm üppig. Dann bleibt vielleicht nur eine Krone und ein Schleppast.
Zuletzt geändert von abardo am 10.11.2021, 17:57, insgesamt 2-mal geändert.
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bock
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Re: Fichte - Kandidat für Literat

Beitrag von bock »

Moin Lutz,

bei Koniferen bin ich kein kompetenter Ratgeber.
Die Diskussion würde es aber erleichtern (wegen der Schwierigkeit von zweidimensionalen Abbildungen auf das dreidimensionale Motiv zu schliessen) wenn du den Baum aus allen vier Himmelsrichtungen zeigen könntest.
Spontan habe ich gedacht "Schade, dass der Stamm auf Höhe des ersten Astes keinen Linksknick macht". Ich würde mich aber nicht trauen, den Stamm dort zu knicken oder gar zu brechen. Würde die Gestaltung meines Erachtens aber erleichtern.
Bin auf jeden Fall gespannt, wie es mit dem Projekt weiter geht. Vieles hängt auch davon ab, ob du den Baum in einer kleinen, schlichten runden Schale oder eher auf einem zerklüfteten Felsen siehst.
Viel Spaß und Erfolg mit dem vielversprechenden Kandidaten!

:-D

PS: zwei Doofe, ein Gedanke... :lol:
liebe Grüße Andreas
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zwanziger
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Re: Fichte - Kandidat für Literat

Beitrag von zwanziger »

Moin Lutz,

ich finde deinen Baum und dessen Start klasse und hab mal versucht deinen Anfang weiter zu denken.
Ob es jetzt Literat oder Bunjin heißt, ist mir egal, ich finds gut.
Ich finde auch, das man nicht noch mehr Bewegung erzwingen muss, da ist schon genug natürliche Leichtigkeit.
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MfG André

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